Samstag, 31. Juli 1880 1880-07-31 Arthur Schnitzler Tagebuch 1879–1931 Arthur Schnitzler Peter Michael Braunwarth Data creation in LaTeX [for print edition] by Peter Michael Braunwarth Data transformation to XML by Matej Ďurčo Data collation, structural and semantic annotation by Peter Michael Braunwarth Data transformation to TEI by Peter Andorfer Index collation of mentioned places Ulrike Czeitschner Index corrections Martin Kirnbauer Index collation and corrections Martin Anton Müller Austrian Centre for Digital Humanities, Austrian Academy of Sciences
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http://hdl.handle.net/21.11115/0000-000B-DD92-7
Tagebuch 1879-1892 978-3-7001-1185-6 Arthur Schnitzler Werner Welzig Obmann der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth Susanne Pertlik Reinhard Urbach Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien 1988 1879-1892 075–078 488 Tagebuch 1879-1931 - Gesamtausgabe 978-3-7001-0395-0 Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach Band 1-10

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31/7 Samstag früh.― Gestern Nachm. am Peters gearbeitet.― Kneipe mit Pepi M., Eugen, Jacques, Berger, Rudolf, Wilhelm, Flotow. Bei Dreher in einer Weinschenke. Toaste, Dummheiten. Rudolf betrank 76 1880: VII 31 sich wieder und der Pferdefuss einer gewissen ungezähmten Sinnlichkeit zeigte sich durch das zerrissene Schuhleder seines Verstandes. Ich toastirte auf Pepi M., in dem der Journalismus seine kühnsten Orgien feire und wurde allgemeiner, ernster, sprach von den Zielen, den Zwecken des Journalismus etc. Gerichtsverhandlung gegen Rudolf. Der Humor Wilhelms mißfällt mir durchaus ― er ist völlig unnatürlich und gezwungen; sein sehr liebenswürdiger Geist ist von Natur weit mehr dazu angethan, sich gemächlich auf eine Bank zu strecken als durch die verschlungenen Wege, die der Humor sein eigen nennt, zu hüpfen. Er verzerrt Gesicht und Worte, aber alles weist nach einer andern Richtung.― Jacques ist von der denkbar größten Monotonie und streckt sich wie eine Axe aus zwischen den Polen rein materieller ganz gemein sinnlicher Genüsse. Er ist ein Mensch, der sich durch das Lächeln einer Courtisane angenehm berührt fühlen kann. Er ist im Stande, zwanzig Mal in einer Viertelstunde die Thatsache zu constatiren, dass er ein paar heiße Würstel essen möchte. Sein veget. Nervensystem hat sich stark auf Kosten seines animalen entwickelt, und beide stehn in einem so engen Zusammenhange, dass sie geradezu eins zu sein scheinen. Er mag geistige Befriedigung empfinden, wenn er drei Butterwecken verzehrt hat. Ein Wort, das ihm gefällt, spricht er ein Dutzend Mal von neuem aus und fühlt sich nun wohl. Wer ihm einen vergnügten Abend gewähren wollte, braucht ihm 3 Cigarren, 3 Rindsgolasch, 3 Biere, 3 Semmeln und eine ― zum Geschenk zu machen und Jacques wird ihm drei Tage lang dankbar sein. Einiges ist allerdings in ihm, das ihn manchmal aufraffen macht, aber er rafft von Tag zu Tag ein kleineres Stück seines Selbst von dem schmutzigen Boden auf, an den er sich allmählig gewöhnt. Er sollte sich ändern, doch glaub’ ich, dass kein geistiger Vortheil von ihm zu erwarten ist. Vor vierzehn Tagen ist ihm eingefallen, dass ihn Rosa geliebt hat. Ihr ist es nie eingefallen. Er stützt sich auf zwei Worte dieses gewöhnlichen Mädchens, die sie selber gewiss längst vergessen und damals im Laufe des Gespräches gedankenlos ausgesprochen hat: „Ihnen kommt keiner zuvor.“ Ich war dabei, als sie das sagte; sie bezog es auf einen Sessel oder Fächer oder ein Tanzengagement ― sah ihn dabei an, und der gute Jacques secirt nun diesen Blick, der zur selben Zeit eben so gut auf einer Stecknadel hätte ruhen können, mit außerordentlicher Consequenz. Er macht sich Vorwürfe, dass er Blick und Wort nicht schon damals verstanden und benützt. Nur kann ich mich erinnern, daß er schon damals seine Eitelkeit sehr befriedigt fühlte. Er ist eine Natur sehr unbedeutender Art; doch hat er Herz 1880: VII 31 77 und ein wenig Verstand; früher hab’ ich’s für mehr gehalten.―

Eugen wird in Gesellschaft, wie sich z. B. gestern eine zusammenfand, leider manchmal roh. Sein Witz schwelgt in Gemeinheit und streift sich schnell ab, so dass nur Gemeinheit übrig bleibt. Er geräth über eine Kleinigkeit in Wuth und stört durch widerwärtiges Schreien und Schimpfen alle Behaglichkeit. All das kann ich ihm schwer verzeihen über der unanfechtbaren Thatsache, dass er auch gesellschaftlich oft sehr gute Einfälle hat und in unsern Kreisen zu amüsiren versteht.

Ein sehr lieber Mensch ist Flotow, gemütlich und von einer gewissen Noblesse; er hat sehr viel Geld und das ist eine große Tugend, die manche andre Tugend an Nützlichkeit überragt. Flot. ist übrigens auch mit normalem Verstande begabt, ohne durch Aufleuchten besondrer Fähigkeiten zu einer größern Aufmerksamkeit Anlass zu geben.―

Pepi M. hat sich sehr gebessert; er ist angenehmer, beinahe gescheidter geworden als er war; ist übrigens wirklich ein grundgescheiter, ganz begabter, oft amüsanter Mensch, den wir uns eigentlich nach und nach präparirt haben.―

Wir gingen zum Schluss (11) ins Universum. Die Atmosphäre solcher Locale, der Dunstkreis der übertünchten Gemeinheit behagt mir nicht. Mich ekelts, die Menschheit als Waare zu sehn und wie sie selbst sich recht behaglich dabei fühlt. Ich weiss nicht, ob ich eine besonders feine Nase habe, aber wenn man mir verschiedene Gerüche auftischte ― ich würde erkennen, auf welcher Schüssel man mir den Geruch eines solchen Locals gebracht hätte. Ich kenne mich & weiss, dass ich nicht das letzte Mal in solcher Luft, unter solchen Menschen mich bewegt habe. Gehörige Reizungen und ein gewisser Rausch schläfert manches ein, was gestern in mir wach war; ― ich kenne mich und weiss, dass ich von Zeit zu Zeit auch da hinunter könnte und o arme Sprache „genießen“. Wie herrlich ists Liebe um Liebe kaufen! Aber die moderne Civilisation steht mit Idealen auf gespanntem Fuße, und wenn auf eines, so passt auf unser Jahrhundert die Bezeichnung „Jahrhundert der Kuppelei“. Und dasselbe Gezücht, das mit Heiratsvermittlern liebäugelt und seine Töchter verkauft (seis um Geld oder Namen oder was immer), hat die Dummheit oder Frechheit, eine Ehebrecherin anzuklagen?

Abend. Ich machte bei R.s Abschiedsbesuch. Mit Fanny kein Wort ungestört. Es öffnete sich die Thür; Jacques L. trat herein; wir reichten uns die Hand; wir sprachen ― Fany war sehr schön und reizend.

78 1880: VII 31 - VIII 11

August

Berger person_13623 14055 Deimel Eugen März 1860 Zara? 10. 3. 1920 New York City person_14386 15271 Journalist Finanzbeamter Flotow Friedrich von 8. 7. 1856 München 10. 3. 1917 München person_15054 16357 Reich Franziska 15. 5. 1862 Lipnik Górny 25. 8. 1930 Wien person_17368 28359 Lawner Jacques person_17370 20176 Pichler Jacques 18. 4. 1862 Wien person_18766 22530 Zahnarzt Reich Emanuel 1830? Lipnik Górny 23. 10. 1891 Wien person_19114 23161 Reich Rudolf 1863? 24. 9. 1884 Reichenau an der Rax person_19117 23165 Rosa person_19346 23530 König Wilhelm 15. 7. 1861 Wien 11. 7. 1916 Leipzig person_16972 19947 Mütter Joseph 1. 3. 1860 Wien 1913 Berlin person_18322 21771 Sebaldus